DANKREDE NAMENS DER PREISTRÄGER VON DR. KONSTANTIN ILIEV

 

Hochverehrte Festversammlung!

Der Antrag, womit mich Seine Magnifizenz der Rektor der Universität Wien geehrt hat, anlässlich der feierlichen Verleihung der Herder-Preise im Namen der Preisträger eine kurze Dankrede zu halten, hat in mir mehrere Gedanken und Empfindungen hervorgerufen. Und da mein Dasein seit vielen Jahren eng mit dem Theateralltag verbunden ist, war es sicher unmöglich, dass zwei Begriffe in meinem Bewusstsein nicht auftauchten: der Begriff "Rollenbesetzung" und der Begriff "Publikum".

Johann Gottfried von Herder stellt in einer seiner Schriften die Frage: "Was ist Publikum?" und vermerkt weiter, dass dieser "sehr unbestimmte Begriff... ein allgemeines Urteil, wenigstens eine Mehrheit der Stimmen in dem Kreise, in welchem man spricht, schreibt oder handelt, zu bezeichnen scheint." Neben dem realen Publikum, "das gegenwärtig um uns ist", heisst es weiter, gibt es auch ein ideales Publikum, das Publikum eben, das nicht um uns ist, so dass "kein Lüftchen uns, aus der Entfernung oder aus der Nachwelt, den Laut seiner Gedanken zuführen mag." Für das ideale Publikum gilt in gleichem Masse das, was für das reale gültig ist. "Es ist" - so sagt der Autor der Briefe zur Beförderung der Humanität: "unser Freund und Kind, aber auch Lehrer, Zurechtweiser, Zeuge, Kläger und Richter."

Wie würde ein Mann, aus dessen Feder unter anderem der Satz "Nationalwahn ist ein furchtbarer Name" hervorgegangen ist, über eine Welt urteilen, in der zwei Jahrhunderte, nachdem der Weise aus Kamenz seinen "Nathan" verfasst hat, religiöse Kriege möglich sind und hinter der durchsichtigen wie auch banalen Tarnung des Pseudopatriotismus etwas genauso Durchsichtiges und Banales vor sich geht - ein Kampf um die Behauptung oder Neuverteilung von Machtpositionen?

Ein Grundmerkmal der Gattung Drama ist, wie bekannt, die besondere Verdichtung von Zeit und Raum; für das Wesen des Dramatischen ist die sprunghafte Umstrukturierung von Wechselbeziehungen charakteristisch, wodurch Spannung und Intensität des Bühnengeschehens zustandekommen. Die sprunghafte Entwicklung der Wissenschaft und der Technik in den letzten Jahrzehnten verdichtet Raum und Zeit, das intensive Geschehen auf der Weltbühne schafft Spannung, falsche Prognosen sorgen für die für das Zustandekommen des Dramatischen so unentbehrlichen Überraschungen. Durch diese Dramaturgie entstehen manchmal positive Empfindungen: Weniger als 24 Stunden, nachdem das Fernsehen den Fall der Berliner Mauer gezeigt hatte, hatten die Bürger von Sofia schon Grund, mit Tänzen vor dem Parlament den Fall ihres eigenen, ihnen über alle Massen lästig gewordenen Diktators zu feiern. Ziemlich oft aber bringt die Entwicklung der Bühnenhandlung in unserer heutigen Welt, wenn nicht Furcht und Mitleid oder gar Furcht ohne Mitleid, so Angst und Unsicherheit mit sich. Und das "trotz der Vermehrung von Werkzeugen und Mitteln zum Gebrauch menschlicher Kräfte". Denn - ich zitiere weiter den Mann, in dessen Namen wir hier versammelt sind - "es kommt doch immer darauf an, ob sie gut gebraucht werden; denn in den Händen des Bösewichts sind vermehrte Mittel vermehrte Übel."

Nachdem ich mir erlaubt habe, Johann Gottfried von Herder zum idealen Publikum dieser Festversammlung hinzuzuzählen und Worte von ihm angeführt habe, die eines der grössten Übel unserer Zeit, den zügellosen Nationalismus, betreffen, will ich daran erinnern, dass er unter anderem ein grosser Verehrer Shakespeares war und ihm eine auch heute erstaunlich aktuell wirkende Schrift gewidmet hat. Wer aber wie Shakespeare die Welt wie eine Bühne auffasst, wird sich kaum an einer Bühne mit uniformierten Figuren erfreuen. Damit sich die bunte Feier des Geistes, die man Theater nennt, verwirklicht, müssten die handelnden Figuren Individualität und Charakter haben. Was fur die Figuren auf den Brettern gültig ist, muss sicher auch für die Nationen auf der Bühne der Welt gelten. Und der, dem ein so herrlicher Titel wie "Stimmen der Völker in Liedern" einfallen konnte, müsste, so will ich glauben, der gleichen Meinung sein. In diesem Sinne, ohne die Gefahren des Phanomens "Narzissmus der kleinen Unterschiede" zu vergessen (der Ausdruck stammt von Sigmund Freud), ist es erfreulich, dass die potentiellen Träger der sieben Herder-Preise aus mehr als sieben Nationen kommen können.

Im Namen derer, die für das Jahr 1996 ausgezeichnet wurden, möchte ich der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S., der Familie Toepfer, dem Kuratorium sowie Seiner Magnifizenz, dem Rektor der Universität Wien, unseren innigsten Dank aussprechen.
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